Sterben muss nichts gnadenloses sein
Es sind nun schon gut zwanzig Jahre her, dass Noemia starb.Damals habe ich schon eine Kurzfassung dieses Berichtes für Leser in Deutschland niedergeschrieben. Ich nenne nun auch hier getrost ihren wirklichen Namen. Im Hebräerbrief (13.7) steht ja, dass wir unserer verstorbenen Zeugen gedenken sollen: „Ihr Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach.“ Es steht auch da, dass Jesus Christus derselbe ist in Ewigkeit und dass es ein köstliches Ding ist, dass das Herz fest werde in seiner Gnade.
Noemia ist 32 Jahre alt. Sie liegt im Krankenhausihres Städtchens, Petrolândia, im Innern von Santa Catarina gelegen. Noemia weiss, dass sie sterben muss.
Sie hat ihren Tod angenommen, ohne Bitterkeit, ohne mit Gott zu hadern. Sie ist in ihrem Leben durch Feuer und Wasser gegangen, nicht nur auf Grund ihrer Krankheit. Ich weiss um ihren schweren Lebensweg. Mehrmals traf ich sie auf der Krebsstation in einem spezialisierten Krankenhaus in Florianópolis, wo meine eigene Frau in ihrem letzten Lebensjahr, wie auch Noemia, chemotherapeutisch behandelt werden musste. Sie lernten da, in der notvollen Behandlung, ihre Not zu teilen.
Vier Jahre lang hatte Noemia gegen ihre Krankheit gekämpft, die ihren Leib langsam zerstörte. Im Ofen des Elends hatte Gott ihren Glauben geläutert. Und nun geschieht das Wunder: Die Todkranke ist selbst die Tröstende geworden. Sie tröstet die, die kommen, um sie zu trösten. In ihrer Schwachheit bezeugt sie die Macht Jesu Christi, glaubwürdig auch für Ungläubige. Eine Sterbende, die lächeln kann. Die Kräfte der neuen Welt Gottes ragen in ihr Leben hinein.
Und dann, als ihr Ende nahe scheint, sagt ihr der Arzt, dass sich ihr Blutbild gebessert hat, dass sie noch Wochen, vielleicht sogar noch Monate zu leben hat.
Als ich sie besuche, ist sie schweigsam und ernst: „Ich hatte die Brücken abgebrochen. Ich war innerlich ruhig geworden, hatte meinen letzten Weg in Gottes Hände gelegt. Nun muss ich die Brücken wieder mühsam bauen. Alle Last hatte ich abgelegt, dieSorge um meinen Mann, meinen Jungen. Jetzt ist alles wieder da. Es ist schwerer, auf Zeit zurückzukehren, als zu sterben. Was will Gott von mir? Ich habe keine Kraft mehr, zu leben.“
Ich habe keine Argumente vorzubringen zu Gottes Verteidigung. Ich kann nur mit ihr beten, vor Gott ihre Not mit ihr teilen.
Und dann werden die drei Wochen, die sie noch lebt, zu einer Segenszeit für die Familie und für die Gemeinde, wie sie Menschen selten zuteil wird. Gerade in ihrer Schwachheit, in gestammelten Worten, oft nur geflüstert, mehr zu erraten als zu verstehen, wirkt sie hinein in das Leben ihrer Familie, in das Leben ihrer Bekannten. Es ist eine leise Verkündigung, eine sanfte Predigt. Sie versöhnt, sie löst, sie mahnt und tröstet, sie verströmt Frieden. Es ist ein wenig wie Weihnachten, oder wie Ostern – oder wie beides zusammen.
Ärzte und Schwestern, Patienten und Besucher spüren es und lassen es andere spüren: Hier ist Gott gegenwärtig. Seine Gegenwart durchdringt und verändert alles.
Als sie stirbt, ist uns allen gewiss, dass das Evangelium Jesu eine Macht ist, die den Tod überwindet, und dass es Gott ein Kleines ist, diese seine Macht zu offenbaren, auch in der Schwachheit seiner Kinder.