Unser Spiegelbild
Um es gleich zu sagen: Unser Spiegelbild zeigt uns nicht so, wie wir wirklich sind. Versuche doch einmal, ein beschriebenes Blatt Papier oder ein offenes Buch vor einen Spiegel zu halten und die wiedergespiegelte Schrift zu lesen. Du wirst erstaunt sein, dass du die Worte gar nicht oder nur mit grosser Mühe entziffern kannst. Die Zeilen laufen von rechts nach links, und wir sehen alles, wie man sagt, spiegelverkehrt, auch uns selber. Wir sehen uns nicht so, wie andere uns sehen.. Doch es geht ja darum, dass wir erkennen, wie wir wirklich sind. Wir sehen uns selber eben anders als wir sind, und das leider nicht nur im Spiegel.
Es fällt uns Menschen schwer, uns selber mit objektiven Augen zu sehen, so, als ob es ein anderer Mensch wäre, der da vor uns steht. Wir haben den Hang, uns anders zu sehen als wir sind: Schöner, vollkommener, klüger, bedeutender. Ja, aber soll man denn nicht ein positives Bild von sich selber haben, müssen wir nicht gegen Komplexe kämpfen, unseren Selbstwert erkennen und behaupten? Ja, das müssen wir. Aber dazu müssen wir erst einmal den Spiegel wegtun.
Es gibt Maler, die das versucht haben – den Spiegel wegzutun und sich selber so zu malen wie sie in Wahrheit zu sein glaubten. Wir denken an das erschreckende Selbstbildnis des gemütskranken holländischen Malers Vincent van Gogh – oder auch an das schöne, christusähnliche Selbstporträt des deutschen Malers Albrecht Dürer, eines Zeitgenossen Luthers. Ich glaube, zwischen diesen beiden Bildern schwankt unser eigenes Bild, das wir als Christen von uns haben. Paulus schreibt Römer 7: “Ich elender Mensch, wer wird mich erlösen von diesem Todesleibe?” – und gleich darauf “Ich danke Gottdurch Jesum Christum, meinen Herrn”. Da ist van Gogh und Albrecht Dürer in einer Person vereinigt.
Wenn ein Mann wie Paulus noch nicht sein endgültiges Bild malen kann, wenn er im Brief an die Philipper sagt: “Nicht, dass ich´s schon ergriffenhätte, ich jage ihm aber nach, ob ichs ergreifen möge, nachdem ich von Christus ergrifffen bin” , dann dürfen wir uns nicht wundern, dass wir gewöhnlichen Christenmenschen mit uns selber noch nicht fertig sind.. Martin Luther hat das schöne Wort gesagt: “Der Christ ist im Werden, nicht im Gewordensein”. Wir sind noch nicht fertig. Gott malt noch an unserem Bildnis. Er gestaltet uns noch hinein in das Bild seines Sohnes. Nur “in ihm” sind wir schonfertig, wir können es nur noch nicht sehen. Paulus schreibt im Kolosserbrief: “Unser Leben ist verborgen mit Christus in Gott”. Doch einst werden wir Christus und uns selber nicht mehr wie in einem Spiegel sehen, sondern in letzter Wahrheit.
Wie sieht uns denn Gott? Nun, er sieht uns, wie wir wirklich sind. Und trotzdem lässt er uns nicht fallen. Wir sind ja ein Gedanke Gottes. Und Gott ist mit seinen Gedanken noch nicht am Ende. Wenn wir meinen, wir sind am Ende, wenn wir keinen Ausweg mehr sehen, wenn einer uns vielleicht gerade “fertiggemacht” hat, dann ist Gott noch längst nicht am Ende mit uns. Er denkt uns noch weiter. Warum lassen wir ihn nicht weiterdenken? Warum stellen wir unsere Gedanken nicht auf seine Gedanken ein? Wir kennen doch das Ziel seiner Gedanken. Im Jeremiabuch heisst es (29.11): “Ich weiss wohl, was für Gedanken ich über euch habe, spricht der Herr: Gedanken des Friedens, nicht des Leides”.
Eines der erschreckensten Dinge, die mir je ein Mensch gesagt hat, war der Satz: “Machen Sie sich keine Mühe mit mir. Ich bin, wie ich bin. Ich ändere mich nicht mehr.” Da spricht einer, als ob er Gott wäre. So hat ja Gott der Herr sich selbst definiert: ICH BIN, DER ICH BIN. Aber Gott ist Gott. Er ist der ewige, der sich selbst treue, der Schöpfer und Herr aller Dinge. Wir sind Menschen, vergängliche und oft elende Geschöpfe. Aber der, der ist wie er ist, er arbeitet an uns, damit wir einmal das sind, was wir sein sollen! Sein Name sei gelobt!