Eine unvollendete Weihnachtsgeschichte
Die Begebenheit, von der ich heute berichten möchte, liegt schon mehr als 50 Jahre zurück, und da ich keine Namen nenne (sie nicht einmal nennen könnte), darf ich davon sprechen, ohne irgend ein Geheimnis zu verletzen.
Da klingelt vormittags am 24. Dezember ( es muss 1956 gwesen sein) ein junger Mann an unserer Haustür in Brusque und bittet um ein Gespräch mit dem Pfarrer. Wie sich herausstellt, kommt er aus São Paulo (mit dem Auto! Das war damals ein Abenteuer).Er sitzt dann ernst vor mir in meinem Studierzimmer und berichtet mir unter Tränen, dass seine Frau (sie waren erst kurze Zeit verheiratet) ihn verlassen hat und dass er auf der Suche nach ihr ist. Sie haben sich gestritten, und etwas, was er gesagt hat, muss sie so schwer verletzt haben, dass sie alles stehen und liegen liess und einfach von der Bildfläche verschwand. Sie hat Bekannte in Santa Catarina, und er meint, ihre Spur gefunden zu haben und hofft, sie vielleicht noch heute in einem bestimmten Hause zu trefffen. Er ist zu mir gekommen, um sich auszusprechen und sich ein wenig Rat und ein wenig Kraft zu holen. Er hat seine Frau wirklich lieb, er möchte sie um Verzeihung bitten, und es wäre seine grösste Freude, wenn er sie heute noch als Weihnachtsgeschenk neu in seine Arme schliessen könnte.
Ich bestärke ihn in seinem Vorhaben, bete mit ihm, kann ihm aber nicht helfen, seine Frau wirklich zu finden. Er fährt schliesslich weiter, und ich habe dann nichts mehr von ihm und seiner Frau gehört.
Ja, das ist wirklich eine unvollendete Weihnachtsgeschichte. Es wäre zu schön, wenn ich schreiben könnte, dass sich das Paar am Weihnachtsabend in die Arme gefallen ist und seine Ehe neu begonnen hat. Vielleicht ist es auch so gekommen. Aber vielleicht war es auch ganz anders. Vielleicht hat der junge Mann seine Frau nicht gefunden, oder sie blieb unversöhnlich, seiner Reue zum Trotz.
Weshalb erzähle ich überhaupt eine Geschichte, deren Ausgang so ungewiss ist? Nun, das möchte ich im folgenden darlegen, und es könnte meiner Meinungund auch meinem Wunsche nach aus der unvollendeten eine vollendete, wirklich schöne Weihnachtsgeschichte werden.
Ist nicht der erste Teil unserer Geschichte ein wenig das Spiegelbild mancher Ehe in unseren Tagen – vielleicht sogar bei manchen unserer Leser? Es muss keine spektakuläre Flucht sein, wie in unserm Falle, die ein Ehepaar auseiander bringt. Es muss auch keine junge Ehe sein. Es kann auch eine Ehe sein, die schon das silberne oder gar das goldene Jubiläum hinter sich hat.. Eheleute können sich auch allmählich von einander entfernen, können sich unvergebene Worte nachtragen, und können meilenweit voneinander entfernt sein, selbst wenn sie am gleichen Tisch sitzen.und im gleichen Bett schlafen. Und es wird dann immer schwerer, diese innere Distanz zu überwinden. Es ist, als ob sich einer vor dem anderen versteckt, als ob eine Wand zwischen ihnen wäre, die undurchlässig geworden ist für jede Regung der Liebe,der Freundlichkeit, der Vergebung.
Und nun hören wir in der Weihnachtsbotschaft, dass Gott die Wand weggerissen hat. Der Himmel ist auf die Erde gekommen. Die Engel singen: “Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden”. “Euch ist heute der Heiland geboren”. Da hat uns Gott der Herr den zweiten Teil unserer Geschichte, so wie er sie ausgehen lassen möchte, fix und fertig vor die Füsse gelegt, ja, er möchte ihn in unser Herz schreiben. Wir brauchen nur zuzugreifen, und aus unserer unvollendeten Weihnachtsgeschichte wird eine vollendete –durch Gottes Gnade vollendete Geschichte.Und es ist dann unsere Geshichte.Unsere Weihnachtsgeschichte. Zu Weihnachten ist der Himmel in besonderer Weise offen. Sollten wir nicht als Eheleute die Gelegenheit benützen, die möglicherweise nicht wiederkommt?